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roger ::: klarer werdendes verblassen
»Erfahrungen führen immer auch in den Bauch der Wörter. Kaum hat man gelernt, dass die Dinge mit den Jahren verblassen, beginnen sie es zu tun. Benachbart der Augenblick in dem das Glück unmöglich ist, weil es nicht dauert, »Du wirst mir fehlen!« Das heißt, du wirst nicht sein. Wir werden zurückbleiben. Auch wir werden nicht bleiben, werden im Augenblick der Fülle die Entbehrung antizipieren. Nicht als Geschmacksverstärker des Augenblicks entfaltet der Kummer die Macht, mit der Zukunft den Moment zu fluten. Die Getrennten stoßen in den Hohlraum vor, der jeder und jede auch ist, in den Hof, den sie zurücklassen werden. Die Kontur der Abwesenden verrät: die unwiederbringliche Person ist Teil einer jeden Person.
… Es ist wie wenn man in der Bahn mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt: zwar wird jeder Gegenstand kleiner, aber er bleibt lange im Blick, und immer noch – während er schwindet und ihm Geschwindigkeit und Richtung der Bewegung seine Proportionen diktiert – kann man ihn entziffern. Denn jetzt wendet er etwas nach außen, das man, dicht dabei, nicht sieht: das Abschiedhafte.«
(Roger Willemsen, Der Knacks)
Jimmy Eat World | 3.06.18 | Conne Island
winterliches Glitzern in frühem Sommerhoch*
Unweit zurückreichende Nostalgie, viel Menschen, viel Klima, viel Bass. Letzterer vielleicht die Feinheiten der Lieder, vor allem die Gesangslinien etwas überspülend, aber das Besondere an Jimmy Eat World dringt auch durch den Bassnebel. Die verspielte, außerordentliche, mitunter minimalistische Klarheit ihrer Kompositionen, der Klang der Saiten, Motive die abgebrochen werden, um sich kurze Zeit später, nach griffigem Gitarrentumult, wieder in veränderter Weise einzufinden, der mehrstimmige in hymnische Empathie schwingende Gesang, hereinbrechender akzentuierter, schwer eingängiger Krach und zartere Weisen die sich nicht so sehr abwechseln sondern ineinander verfädeln, verdichten, Komplexität die klingt als wäre nichts leichter, darüber gebreitet, die Weite jugendlichen Seins, popsüß romantisch, energiegeladen, übergutgelaunt, ausbrechend, emo-ptimistisches Lebensgefühl, Zuversicht zusprechend, erzieherische Maßnahmen in den Zwischengesprächen mit dem Publikum, mehr Zeit, weniger fu*** phones, es scheint niemand hier ist jemals wirklich älter geworden, schon gar nicht um gut zwanzig Jahre, die Beziehung zwischen Fan und ausgefüllte Vorbildrolle steht so solide, wie etwas nur stehen kann wenn jeder daran festhalten will, es noch einmal leben, sei es für einen Abend, so einfach, das Damals, so scheint es im Jetzt, (so leicht wurde man pathetisch, damals!), die Linien klar, der Weg nicht wichtig, sondern nur das Sein im Moment … und in all dem verschwimmend das so traurige Hear You Me. Erfahrung, Weisheit, etwas nach vorn gerichtetes Nachdenkliches das in jedem ihrer Stücke enthalten ist. All das was den Jimmy Eat World ganz eigenen Drive bestimmt, der durch ihre Stücke fließt, ihr Jizz, schweben durch den überfüllten Saal, über die in der Mitte das Saalklima ignorierende Wahnsinnigen die mit gereckten Armen wild auf und abspringen, bis an die Seitenränder. Glück und Staunen wie der eine übergroße Song immer von noch einem Weiteren gefolgt wird, eine schier endlos scheinende Kette an schimmernden Perlen. Und darin eine neue in blau gehüllte schwarzlochschwere Perle aus Postrock, deren Namen vergessen ist, doch die Hoffnung dass man sie wiederfindet besteht.
thoreauvian ::: notizen reich an zeit und ewigkeit
»Die Ewigkeit könnte nicht mit mehr Gewissheit und Bedeutung beginnen als der Frühling. Durch diese Notiz wird die Ewigkeit des Sommers wiederhergestellt.«
(Henry D. Thoreau, Tagebuch I)
»Der Mensch von heute hat keine Zeit mehr, folglich auch kein Heute mehr und kein Jetzt. … Er hat buchstäblich die Zeit verloren. Er wird in dem digitalen Kontinuum einer gesellschaftlichen Pseudozeit hin und her geschubst. So versteht er es nicht mehr, in den Tag hineinzuleben. Die Lektüre von Thoreaus Tagebuch kann unseren subjektiven Zeitsinn wieder stärken … Das Tonikum dieser Tagebuchsätze hilft gegen mentale Verwahrlosung unter dem Diktat einer digitalen All-Zeit.«
(Rainer G. Schmidt, editorische Notiz in: Henry D. Thoreau, Tagebuch I)