20.10.22 | Placebo | Arena
Aus dem Haus fallen und schon beinahe in der sehr weitreichenden Schlange vor dem Einlass stehen. Dame D die von der anderen Richtung kam und sehr frische Cure-Erfahrungen vorweisen kann mutmaßt dass es auch auf der anderen Seite Einlass gebe, schlendert um die Ecke um das Abzuchecken und kurz darauf funkt mein Telefon, und wir betreten durch den nicht geheimen Hintereingang wartelos die Arena. Der große Raum ist noch weitgehend leer, und bereits sehr warm. Begeben uns in die hintere Hälfte des vorderen Drittels wo man noch recht geräumig stehen kann, und kurz darauf scheuchen Dead Letters ihre Songs über die Bühne.
Deadletter. Die zuvor recherchierte als Synth Pop deklarierte Vorband und die tatsächlich auftretende Band stellen merkwürdige Dinge mit meiner Rezeption an. Etwas fehl/orientierungs/los denke ich an diese Phase in den 80ern, a la das Model, speichere für mich ab dass dies wohl Synth Pop sei, wobei ich mir darunter etwas gänzlich anderes vorgestellt hätte, und bin in Folge nicht in der Lage auszumachen ob der Sänger auf deutsch oder englisch seine Textzeilen schreiend einspricht. Erinnerungen an die William Shatner-Alben werden sehr wach und froh. Dame D klärt nach dem ersten Lied auf, dass dies kein Synth Pop ist, was mich auf nicht ergründbare Weise beruhigt, als würde etwas in der Welt wieder geradegerückt. In Gesamtheit ist es mir in meinem seit Tagen zu aktiven Sein zu sperrig, wobei vor allem der »Gesang« meinem Gemüt zusetzt, auf fordernd prangernde Weise unzufrieden, was harmoniesüchtige Seelenzustände torpediert. Elemente die ich als free jazz für mich werte rumpeln durch die Songs, sehr viel Saxophon, zu denen der Sänger in interessanten Verrenkungen speed-Zombie-gleich über die Bühne zappelt. Die Stücke gliedern sich alle in ein ähnliches Grundschema ein, während in ihnen auf mich wahllos wirkend alle spielen worauf sie gerade Lust haben während aus dem Sänger melodielos doch mit sehr viel pascal Liedzeilen herausbrechen. Ist da auch Punk mit drin? Etwas erinnert an Bul Bul, in jedem Stück sehr viele nicht zusammenhängende doch erfreuliche Einzelgeräusche. Nachrecherche: man findet verstörenderweise keinen Wikipediaartikel und Angelpunkt, aber in einer Rezension wird es als post punk deklariert.
Placebo. Nach sehr kurzem Umbau geht es weiter. Die Funktionsfähigkeit meines Konzertsequenzers scheint durch die so lange nicht mehr erlebte Häufung dicht aufeinanderfolgender Konzerte beeinträchtigt und abgeschwächt, und es mag zudem an der doch sehr weiten Ferne vom eigentlichen Geschehen, und durch viele Köpfe, Schultern, Rücken sehr eingeschränkte Sicht auf die auf der Bühne nur miniaturisiert wahrnehmbaren Künstler liegen, die die Stücke eher in Gesamtheit plan erlebbar macht, als in vielen aufgefächerten musikalischen Details. Doch große Freude an jedem einzelnen dieser perfekten Songs. Wie unvergleichlich schön der Klang der Textzeilen oft ist, und die Signaturemelodie in die der den Wörtern und Sätzen schon eigene poetische Wortklang von Placebos Sänger noch weiter aufpoliert, zum schimmern und glänzen gebracht wird. Und die wie eine Perle darin verborgene Bedeutung die in ihnen enthalten ist, ein aufschimmernder nicht klar zu fassender Sinn, dem Leben Ausdruck gebend. Nicht ganz sicher in der Zuordnung mancher Songs zu verschiedenen Alben, so scheinen mir doch vor allem die wenigen älteren Stücke im derzeitigen Placebostil modernisiert was das Hören sehr aufregend macht, selbst wenn es nur ein auf zu wenig inwendig Kennen imaginierter Effekt sein sollte. In irgendeinem Lied ein plötzliches Intermezzo, die Tetris Melodie auf achthundert gedreht? Violineinsatz. Erwähnenswerte Tasten. Das wohltuend Tragende, Gleitende, Schwebende des aktuellen Albums, aller Alben. Der Signatursound, aus wie vielen Komponenten er besteht. Eine ätherischen Komponente, allgemeine Leichtigkeit und Transparenz die allen Songs innewohnt, ohne dem beglückenden Krachgefühl abträglich zu sein.
Weniger beeinträchtigt ist der visuelle Wahrnehmungsschreiber, und diesem wird glänzend aufgeboten. Schon während der Vorband schien die Bühne mal wieder wie hinter einem Vorhang, diesmal aus überwiegend vertikalen Streifen, hinter denen transparent doch wie hinter einem grobmolekulareren Nebel das Geschehen auszumachen war. Dieser Vorhang besteht aus fünf hochkanten Rechtecken aus schwarzem Metall, die in ihrer Höhe verschoben werden können, so dass sie entweder ein langes Paneel bilden, oder einzelne Leinwandflächen. Zudem sind im Halbrund hinter der Bühne schmalere Flächen arrangiert die ebenso leinwandbildend sind. In technisch nicht bekannter Weise sind diese Leinwände eigentlich durchsichtig, sie bestehen aus mehreren Einzelgittern, und teils ist auch dahinterliegende Kabelage zu sehen, und doch können darauf sowohl flächenabdeckend als auch halbtransparent die dahinterstehende Struktur noch sichtbar lassend Visualisierungen aufscheinen, oder auch organisch teilweise abdeckend und teilweise transparent, und manchmal scheinen die Scheinwerfer von hinten hindurch und erzeugen zusätzlich in Rotation gesetzte Distortionseffekte wie ein Stein der in eine Wasseroberfläche plumpst. Oder herablaufende Matrixleuchtspuren, nur nicht in grün. Leinwände aus Licht. Das immer weiter in der Vergangenheit zurückbleibende Selbst steht davor staunend wie vor Magie, und fühlt sich zugleich wie auf einer Vernissage bewegter und beschleunigter e-Pop-Art, in der in großen Teilen Liveaufnahmen von der Bühne, teils vermischt, verfremdet, überblendet, zerfließend, Bildschirmschoneranimationen integriert hineinlaufend, die Videoaufnahmen verzerren, durchbrechen, fragmentieren, doublieren, alles in überraschend wohltuend schrillen Farben, und immer neue Eindrücke in dieser von Lieblingsmusik unterlegten Installation durch einen hindurchströmen. Es verfließt, verwirbelt, körnt auf, Bildbestandteile fallen wie in einem Wasserfall in sich vereinzelt herab, einmal wird gerastert, in gedämpften Abstufungen von Key mit dunklem Neongrün (n.b. es wird auch in blau gerastert), die fünf Paneele werden in vielzählige kleine Monitore aufgesplitted, man vermeint sich in digitalen Anzeigetafeln in lauten nächtlichen Städten wie Las Vegas, hindurchfahrend, und die Wahrnehmung so sehr überfordert dass sie nur noch in Halluzinationen verarbeiten kann.
Die Songs gleiten darunter und darin vorbei. Das voranfließende in der Musik, der Fluss, der auch in den Visualisierungen oft aufgegriffen wird. Die Visuals der Show komplimentieren die Musik von Placebo sehr, das Audielle ist im Visuellen perfekt eingefangen, wie in einem Dialog. In Zugabe wird als erstes Shout, Shout, I am talking to you, geboten, zwei, drei weitere, eher ruhende Songs, doch für das Konzert vielleicht elektronisch verstört aufgearbeitet, und mit einem gefühlt endlosen Störfiepen und abschließenden Leinwandfinale aus elektrisch zuckenden gegeneinander ankämpfenden Farbflächen wird der Stecker aus diesem für ein Großraumkonzert ausnehmend feinen Abend gezogen. Teile des Publikums verlassen tumultartig, teils schon während der Zugabe, als gälte es ihr Leben in langen Armketten andere für sie wohl verwirrend entspannt zu den Ausgängen schlendernde Wesen dabei oft kollaterierend die Halle. Mutmaßungen dass diese Unentspanntheit nur Mobilfahrzeugfahrenden zu eigen sein kann, die aus Bequemlichkeitsgründen gleichwohl in Tuchfühlung der Arena parken müssen, aber die persönliche Zumutung beim vierrädrigen Verlassen der Parkareale Wartezeiten verbringen zu müssen nicht ertragen können, werden überzeugend angestellt. We are living in a partly strange society. Beglückt und musikbewegt leicht der eigene Nachhauseweg, als Ohrwurm eine Mischung aus I am talkig to you and grow fins and return to the water im Sein.