Im Zeichen des Vogels
… die meisten Familien halten sich einiges darauf einen irgendwie gearteten Vogel zu haben. Meine Familie besaß Generationen über Generationen gewellter Sittiche …
Die weibliche Teilmenge meiner Familie, die sowohl aus Teilen der Elternmenge als aus der Gesamtheit der Töchter, aber aus Mangel an brüderlicher Anwesenheit nicht aus der Gesamtheit der Kindmenge besteht, bewegt sich in einem durch die elterliche Teilmenge bestimmten langsamen Tempo bei wärmstherrlichen, alles mild umfließenden Sonnenschein durch das Rosental in Richtung Zoo.
Abends zuvor wurde mit durch gegenseitige Anwesenheit induzierten Erinnerungsstücken ein Puzzel zusammengesetzt, das 11 Jahre Grundschullehre der Mathematik des späten vergangenen Jahrhunderts überspannt. Bisher verkündete ich oft wehmütig, an meine Kindheit keinerlei Erinnerung zu besitzen. Inzwischen schimmern oft wie winziger Glimmer sehr kurze visuelle Bilder auf, die Erinnerungskapseln weichen endlich durch das Altern auf.
Da ich ein neugieriger Mensch bin, begrüße ich diese Alterserscheinung und die Erinnerungen die mich schließlich ins Grab geleiten werden, statt sie kummervoll zu bemerken. Wenn man bedenkt, dass das Wort Grab von graben kommt, es für diese Tätigkeit aber auch das Wort buddeln gibt, so könnte man überlegen, wie es sich auf das Gemüt unseres Landes ausgewirkt hätte, hieße es seit ehedem nicht Grab sondern Buddel. Der gereizte Mann würde ausrufen: »Du bringst mich noch ins Buddel!«, was ohne Zweifel mit einem liebevollen Seitenschmunzeln gesprochen würde, wohingegen »Du bringst mich noch ins Grab!« nur düstervorwurfsvoll klingt, und den gefährtlichen Schwelbrand weiter anfacht. Die Buddelstille wäre gar keine, sondern ein erdkrümelig schabendes Geräusch, dass zart besaitete Ruheliebhaber nicht wenig nervös machen würde. Und alles in allem müsste unser Volk argloser, selbstironischer und freudvoller sein, als es unserem tatsächlichen Klischee des Erdvolks entspricht.
Jedenfalls wurde in den Erinnerungen zutage gefördert, dass meine Schwester mittels blauer, roter und gelber Dreieck-, Viereck- und Kreis-Plättchen die Höhen der Mengenlehre erfahren sollte, und ich vermeinte glücklich vor Wiedererinnernsfreude ein kurzes Erinnerungsbild an diese Plättchen zu erhaschen, auch wenn sich dieses wohlmöglich mit einem Spiel überlagerte, bei dem man ein liegendes Plättchen durch das Draufschnippen mit einem zweiten Plättchen quer über den Tisch katapultiert. In einem Elternabend wurde auch den Eltern die Mengenlehre bei- und die Plättchen als neuestes pädagogisch wertvolles Lehrmittel nahegebracht, damit sie den Kindern bei den Hausaufgaben beizustehen in der Lage wären. Dies geschah sehr zum Leidwesen meiner Mutter, die sich bis heute fragt wozu man jemals die Mengenlehre bräuchte im Leben, und wo man sie wenigstens anwenden könnte. Um dieser Frage eine Antwort zu geben, steht der erste Satz. Weitere Antworten liefert die Suchmaschine. Eine sehr schöne ist das Wort pränumerische Vorerfahrung.
Zoohighlight des Tages. Der ganze in Sonnenwärme liegende gefiederte Zoo ist ein einziges Geräkel, Gepluste und wohliges Gestrecke, eine Ode an die Posierlichkeit, bis frühnachmittags die spätherbstliche Kälte mit einem Klirr herabklatscht und die wunderbare Muffwärme sämtlicher Großtierhäuser würdigen läßt.
Nachtrag. Das Plus an Kindheitsgesicht bringt die Altersvergesslichkeit. So war es mir heute unmöglich mich an mein PC-Passwort zu erinnern, dass ich seit über einem halben Jahr erfolgreich, gedankenlos mit beeindruckender Sicherheit und ohne Angst jeden Tag verwende. Jede Erinnerungsspur daran ist für immer aus meinem Gedächtnis gelöscht. Momentlang blicke ich durch die Passworteingabeaufforderung auf dem Monitor hindurch nach Innen in mein Gehirn und beäuge mißtrauisch die leere Stelle an der vordem das Passwort gelegen haben muss. Erfolglos gehen ich eine Reihe von möglichen Passwörtern durch, von denen ich vorher weiß, dass sie nicht funktionieren werden. Ich kann nicht glauben dass etwas so dermaßen vollkommen weg sein kann, als wäre es nie gewesen. Und dies kurz nach dem Aufwachen, nach einer Geburtstags-Feier die zwar lange ging, bei der aber nicht übermäßig getrunken wurde. Abergläubisch stelle ich mich der Tatsache, dass es mir trotzdem gelungen sein muss, genau die Zellen in der die Passwortinformation lagerte zerstört zu haben. Beängstigend.
Nachtrag zwei. Was noch in vergleichsweise schlichter Weise in den Erinnerungen meiner Mutter Schlieren zieht, scheint durch weitere Nachforschungen tatsächlichst in den 70er Jahren heiß diskutiert worden zu sein. Interessanter Artikel über das bildungspolitische Fiasko. In den Kommentaren zum Artikel hingegen befinden sich zahlreiche Bekundungen das Plättchenspiel im Matheunterricht geliebt zu haben, auch Unverständnis über die Notwendigkeit der Schulung der Eltern. Noch ein paar Jahre und ich kann mich selbst erinnern …