Expedition langes Eiland | 24.05 bis 2.06 | VII
ein unmöglicher Forschungsbericht fantasiebegeisterter Dilettanten
Donnerstag. Tag des Schweigens. Suche nach innerem Gedankensturm und darauffolgender Ruhe. Da meine drei Mitreisenden aber beständig vor sich hin plappern, fühlt es sich eher an wie das unbeteiligte Zuschauen bei einem Kinofilm. Trotzdem: nicht uninteressant! Bin stolz darauf zahllose Pointen auf das Gesagte nicht zu äußern und genieße das Gefühl wie sie auf Nimmerwiedersehen ungesagt davontreiben.
Sehr aufschlussreich und folgerichtig scheint mir auch diese Beobachtung. Fühle ich mich bei meinen verbalen Äußerungen schon oft vollkommen unverstanden, so ist dies auch noch mehr bei meinen nonverbalen Kommunikationsversuchen zu erwarten, und doch hatte ich es vorab nicht berücksichtigt. So ist es mir nur unter äußersten Mühen gelungen, die ganze Bande an den verlassenen geheimen Strandwinkel nebst der Seehundbeobachtungsstation zu bugsieren. Andererseits bin ich auch oft von der Feinfühligkeit meiner Gefährten überrascht, wenn sie hin und wieder einen Gedanken, oder Wunsch und Begehr aus meinen Gesten ablesen und genau erraten. Ein Gefühl dass ich mir vornehme öfter zu erforschen, so wohltuend ists, wenn man nichts sagt, und dann die anderen für einen zusammenfassen, man möchte wohl dies oder das.
Ebenfalls nicht bedacht habe ich, dass jemanden der sich gerne in Selbstgesprächen übt, doch sehr leicht, versunken in naturkundlichen Beobachtungen oder bei plötzlichem Mißgeschick ein Wow, Hach oder Huch aus der Kehle flutscht. Schneller umherschweifender Blick und Beschluß dass es niemand bemerkt hat, auch wenn alle 3 Augenpaare so merkwürdig auf einen gerichtet sind.
Der Tag beginnt allerdings mit einem ersten Rückschlag. Beim Frühstück konfrontiert mich der Abenteurer mit der ihm vorschwebenden Idee diesmal nicht zu Fuß stundenlang zum Ostende zu gehen, sondern sich eins dieser neumodischen Geräte, sie nennen sie Fahrräder, unter den Hintern zu schnallen, und so das gelobte Ziel in einem Bruchteil der Zeit zu erreichen. Ich bin schockiert, doch schweige tapfer vor mich hin. Erkenne dass man mit seiner Stimme auch sein Stimmrecht abgibt, und quittiere dies mit einem Achselzucken. Eine leichte Hoffnung. Pilgermeister G. wird sich diesem Vorschlag doch sicherlich widersetzen. Doch auch hier weit gefehlt. Nachdem ich vom Duschen zurückkomme erwarten sie mich alle drei hellauf begeistert von der Idee. Fahrradmeuterei! Skandalös. Ich hoffe meine Gebärden transportieren was ich dazu denke. Macht doch was ihr wollt.
Wenig später. Wie ein Pfeil fliege ich über die Oststraße. Wie belebend, wie erhebend, wie … durchaus akzeptabel.
Wieder begleiten Heerings-, Silber- und Lachmöwen (Larus ridibundus), Tauben, Spatzen, Schwalben, Austernfischer (Haematopus ostralegus), Brandenten (Tadorna tadorna), Ringelgansformationen (Branta bernicla), Wuschelkühe, diesmal im Wasser stehend, aber sich den Badespaß dabei nicht anmerken lassend, selbst bei entdeckter Tarnung weiter in Tarnhaltung verharrende, dabei aber etwas ertappt blickende Feldhasen (Lepus europaeus), Fasane (Phasianus colchicus) und vieles weitere Getier unseren Tag auf Langeoog. Ein Austernfischer am Wegesrand verharrt still sobald wir an ihm vorbeifahren. Sein Blick spricht Bände: wenn ich mich nicht bewege, sehen sie mich nicht. Mein Blick kreuzt den des Institutleiters und ich vermeine dort denselben Gedanken zu sehen. Sogar eine Kornweihe (Circus cyaneus) wird kurz vor dem Ostende am Himmel über uns kreisend vom Institutsleiter identifiziert. Nach Abstecher zur Seehundbeobachtungsstation laufen wir, nach erheblichen pantomimischen Verrenkungen meinerseits wider die mir schwer zu verstehende Begriffsstutzigkeit meiner Kollegen, über den Graspfad zum Nordstrand.
Barfuß genieße ich das frischfeuchte Gefühl des quietschigen Grases, zu gern würde ich mich mit Kollege G. darüber austauschen. Am wüstenähnlichen, hügelig bis zum Horizont sich dahindünenden Strand am Ostende fliegt mit unrealistisch merkwürdigem Ruf ein Vogel mit nach unten gebogenen Schnabel über unsere Köpfe hinweg, den ich später als großen Brachvogel recherchiere (Nurmenius arquata), und der in einer mir vorliegenden Informationsbroschüre mit der Buchstabenfolge »Tla-üh« beschrieben wird, in einer anderen »tlüi« oder auch »chrürüi«.
Es ist wohl kaum mehr zu verhehlen dass sich aufgrund des eklatanten Gesteinsmangels unsere Forschungsinteressen verlagern mussten, und sich unser allseits interessierter umherflirrender Geist pragmatisch der Vogelkunde zugewandt hat. Das neue Forschungsgebiet soll frühmorgends mit einer geführten Tour mit der Biologin die uns auch durch das Watt führte eine solide Basis erhalten. Die Tour ist mit Fahrrad. Schickalsfügung würde man meinen.
Prof. G. (PGI) · February 14, 2014 @ 22:57
Welch erstaunlicher Tag, selbst in der Rückblende betrachtet. Einigermaßen fassungslos, aber zu meiner Schande gleichermaßen leicht belustigt, wurde ich des morgens der Tatsache gewahr, dass meine geschätzte Kollegin Prof. M. ihr seit langem angekündigtes lingusoziales Experiment durchzuführen gedachte. Zu meiner Überraschung entwickelte sich aus der zu Beginn mit Fug und Recht als ungewohnt bis peinlich zu bezeichnenden Situation während des Frühstücks eine überaus faszinierend neue Dynamik unter den Teilnehmern der Ostinselspitzen-Expedition. Erstens, möchte man Prof. M. sinnbildlich als verbale Input-Injektorin erachten, und negiert man nun diesen Einflussfaktor auf das Gruppensozialgefüge, bleibt das nicht ohne Einfluss auf die Gewohnheiten der anderen Gruppenmitglieder. Zweitens, eine gewohntermaßen sprechende Person, die kein Wort mehr äußert und sich der neuen Situation anpassend beginnt, mittels Mimik und Gestik Fragen zu beantworten oder auf eigene Befindlichkeiten hinzuweisen, wird in ihrem vertrauten sozialen Umfeld charakterlich anders rezipiert als sonst, und das bereits nach wenigen Stunden. Drittens ist es ein Faszinosum, wie schnell die scheinbare Einschränkung der Ausdrucksfähigkeit der Prof. M. und der damit verbundenen Aufhebung der gewohnten Gruppendynamik durch Neukombination der verbliebenen oder sonst brachliegender Mittel kompensiert werden konnte und der soziale Zusammenhalt keine Beeinträchtigung erfuhr.
Ich hoffe auch baldige Fortsetzung des Experiments mit veränderten Variablen und bin einer Versuchsanordnung mit mehr als einer schweigenden Person nicht mehr völlig abgeneigt.
Hochachtungsvoll,
Prof. A. (PGI)
admini · February 15, 2014 @ 00:25
Vortrefflich Herr Kollege,
so wollen wirs wagen
irgendwann
in den nächsten Tagen und Monden
durch beredtes Schweigen
die universale Stille zu tragen