Berichterstattung für das PGI ::: Vortrag über den Verlust der Nacht zur langen Nacht der Wissenschaften

Lange Nacht der Wissenschaften | 27.06.14 | Vortrag »Vom Verlust der Nacht«

Vortragsankündigung der Website: Vom Verlust der Nacht. Die zunehmende künstliche Beleuchtung hat Folgen für Tiere und Menschen. Wir zeigen Ihnen in einem Vortrag, wie die Vogelwelt in Leipzig beeinflusst wird, wenn die Nacht immer heller wird, und wie Sie Teil eines internationalen Forschungsprogramms werden können. — Dr. Reinhard Klenke, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung — UFZ

Website der Forschungsgruppe: Verlust der Nacht | e-paper zum Hauptthema des Vortrags: Sleepless in Town – Drivers of the Temporal Shift in Dawn Song in Urban European Blackbirds

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Die zwei Mitarbeiter der Institutszweigstelle Musikalienforschung/Tschaikowskistraße begeben sich mit interdisziplinärem Enthusiasmus zum Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung. Am wissenschaftlich-romantisch quadratisch angelegtem Institutsteich werden äußerst faszinierend fette Exemplare der Gerridae (Wasserläufer, Untergruppe der Wanzen, Heteroptera) gesichtet und beobachtet. Vermeintliche Zweipaarbeinigkeit wird schließlich als mangelhafte Beinhaltung der Hexapoden entlarvt.

Memorierte Vortragsinhalte. Eine Umfrage der etwa 40 Zuhörer ergibt dass gut 50 Prozent noch nie in ihrem Leben die Milchstraße am Nachthimmel gesehen haben. Eine ältere Dame gibt gar an selbst im Urlaub in lichtschmutzarmen Gebieten nicht auf den Nachthimmel zu achten. Das Ergebnis ist — für jeden der die rauschende Pracht des dichten Sternenbandes zumindest hin und wieder mit eigenen Augen sieht und sich darin verlieren kann — noch bestürzender als die in der Präsentation vorgestellte Zahl von 30 Prozent. Wohlgemerkt geht es hier nicht um regelmäßige Sichtung der Milchstraße. Sondern um: noch nie, kein einziges Mal im Leben.

Der Lichtdom über Städten wird von nächtlichen Wolken reflektiert, was zu dem Kuriosum führt dass Wolkennächte in Städten heller als andere Stadtnächte sind, Wolkennächte das Land hingegen noch weiter verdunkeln.

Zusammenhang vom Verlust der Nacht, und eigentlich auch des Tages, des Verlusts täglichen Aufenthalts im Freien, daraus resultierendem niedrigen Melatoninspiegel im Körper, und mutmaßlichem Zusammenhang eines steigenden Risikos an Krebs zu erkranken in der Bevölkerung — Melatonin übrigens eines der nachweisbar ältesten Hormone in unserer Evolution, das sich bereits in urzeitlichen Pflanzen findet.

Städte sind mit ihren hoch aufragenden Steinaufhäufungen und engen Schluchten wie Gebirge, wenn man sie mit den Augen der ursprünglich von dort stammenden Stadttauben betrachtet.

Lichtquellen, wie zum Beispiel Straßenlaternen oder illuminierte Hochhäuser funktionieren wie Staubsauger, die im ersten Beispiel Insekten, im zweiten Vögel aus der Umgebung »ansaugen«, welche daraufhin die Orientierung verlieren und im Lichtkegel gefangen sind. Die meisten Opfer sterben nicht durch Kollision, sondern an Erschöpfung. Durch den Verlust dieser Insekten für die Nahrungskette ergeben sich Auswirkungen auf das gesamte Ökosystem (im Vorstellungs-Film der Forschungsgruppe wird von Verschiebung des Nahrungsnetzgefüges und nicht von Verlust gesprochen).

Hauptgegenstand des Vortrags. Ergebnisse der im Rahmen der Verlust-der-Nacht-Forschungsgruppe in Leipzig durchgeführten Untersuchung zum morgendlichen Singbeginn (song onset) der Amseln, eingeteilt in 3 Hauptgruppen: Amseln im Auwald, Amseln im zentrumsnahen Clara/Johannapark, Zentrumsamseln. Amseln wurden aufgrund ihres hervorstechenden, sich gerne exponierenden, Charismas und leichter Handhabung (Fangbarkeit) ausgewählt.

»Im Stadtgebiet Leipzig sollen physiologische Kosten und ökologische Konsequenzen (Auswirkungen auf Nahrungssuche, Partnerwahl und Brutbiologie) am Modellorganismus Amsel (Turdus merula) beleuchtet werden. Die Beobachtung individuell markierter Vögel im gesamten Jahresverlauf soll Hinweise auf Veränderungen in Populations- und Verhaltensökologie in Abhängigkeit vom Lichtangebot liefern. Parallel dazu werden weitere Experimente in beleuchteter und unbeleuchteter Landschaft auf einer ländlichen Versuchsfläche durchgeführt.« (aus der Projektbeschreibung der Website der Forschungsgruppe)

Natürlicher morgendlicher Antritt zum Tirilieren etwa 50 Minuten vor Sonnenaufgang. Ein Heer von Studenten begab sich nächtens im 20-Minuten-Takt auf die Lausch, Resultat der etwa 3600 Einzelmessungen: Krakeelbeginn einer Zentrumsamsel liegt im Frühjahr um bis zu 5 Stunden vor Sonnenaufgang, wie natürlich auch jedem aus eigener Erfahrung bekannt ist, der gelegentlich gegen Mitternacht nach Hause spaziert und dabei das Zentrum quert. Zur Jahresmitte hin gleichen sich die Zeiten an, da die Nacht an sich kürzer wird. Dabei ist nicht allein der Lichtschmutz, sondern auch der Lärm bedeutender Auslöser. Direkt im Zentrum döst das Amselvolk sogar wieder ein wenig länger, da dort zumindest kein Straßenlärm stört. Nicht unerwähnt bleiben soll die zusätzliche Perfidie der Umstellung der Sommerzeit, die das schwarzgefiedrige Tier plötzlich eine Stunde früher von den Krallen reißt. Der Vortrag schließt mit der Feststellung dass die Zentrumsamseln einen höheren BMI haben. Die Auswertung hierzu ist noch nicht abgeschlossen, doch die persönliche Vermutung des Vortragenden ist, dass es vom Fast-Food-Konsum der Zentrumsamseln herrührt. Oder etwas weniger albern ausgedrückt: wer länger wach ist, kann länger und mehr essen.

Ausgerüstet mit einem Smart Phone kann sich übrigens jeder in einer mondlosen Nacht Befindende am Forschungsprojekt beteiligen, und sich durch das Messen der Helligkeit des Nachthimmels am aktuellen Standort als einer von vielen Datensammlern engagieren. Benötigt wird hierzu eine App die von der Website heruntergeladen werden kann.

Der Weg aus dem Helmholtz-Zentrum hin zur Straßenbahnhaltestelle wird von faszinierend fetten und anhänglichen Hummeln (Bombi, und von Bombern zu sprechen wäre in der Tat nicht untertrieben) begleitet. Im Kopf kreisen weitere Fragestellungen. Gibt es Stadt- oder Landflucht bei den Amseln? Einmal Stadtamsel, immer Stadtamsel, oder ziehen die Nachkommen dann womöglich wieder aufs Land? Oder treibt es gar die jungen Turdi merulae ins Zentrum, und mit gesetzterem Alter ziehen sie dann in den Park?

mon. ini. für das PGI

3 Kommentare
  1. Institutsleiter · July 2, 2014 @ 08:24

    Frau Kollegin! Nicht ganz unerwartet hervorragend memoriert und dokumentiert! :-) Das PGI dankt! Die von Ihnen beiden beobachtete “mangelhafte Beinhaltung der Hexapoden” verdient es eigentlich, intensiver erforscht zu werden. Das Institut würde im Bedarfsfall die notwendige Experimentalausrüstung beisteuern (z.B. 6-teiliges Rollschuhset, ein Rechenschieber, Fußabdruckgips, etc.)

    Hier noch etwas “Vom Schlaf”: http://www.monde-diplomatique.de/pm/2014/06/13/a0036.text

  2. Institutsleiter · July 2, 2014 @ 08:32

    Erster Nachtrag: Die These “wer länger wach ist, kann länger und mehr essen” findet aus eigener Erfahrung meine vollste Unterstützung!

  3. admini · July 2, 2014 @ 19:50

    Herr Kollege! Großartiges Linkmaterial. Soviele höchst bemerkenswerte Aspekte, man weiß gar nicht welchen man zufürderst herausheben soll. Ich wusste es schon immer, meine Schläfrigkeit ist nicht Degeneration sondern Revolution! Vive!

    Habe übrigens zuerst US-Vogelministerium gelesen. Das passt zu einem anderen kürzlichen Verleser, im Satz “verschiedene Trauben (Müller Turgau, Sauvignon, …)” las ich doch tatsächlich “verschiedene Tauben” und habe mich sehr über die Sauvignon-Taube amüsiert.

    Merkwürdig dass Sie gerade auf den Satz “wer länger wach ist, kann länger und mehr essen” anspielen … wie aus dem Nichts musste ich zu diesem Zeitpunkt des Vortrages auch an Sie denken.

    Hoffe auf baldigen persönlichen Austausch im PGI!

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