Nils Frahm | 27.04.15 | Schauspielhaus
Freizügig plätschernder Regen begleitet uns zum Schauspielhaus. Nach kurzem Auswringen, Garderobenabgabe und an die plötzliche nicht unwillkommene Trockenheit Gewöhnen weiter zum Einlaß, wir sind etwas spät, doch wie meist, belohnt das Leben genau diejenigen. Die Ränge sind geöffnet! Durch das Hintertreppenhaus geht es hinauf, immer weiter hinauf und wieder hinab in die erste Reihe. Ganz oben im Eingang kurz ein schwindelnder Eindruck, die Bühne liegt weit unten, wie am Grund eines Brunnens.
Der Blick wird als erstes von drei etwa zweimeterhohen kastigen Holzobjekten gefangen. Sie stehen links auf der Bühne, an ihren Seiten sind elektronische Blinkerapplikationen montiert, die flackernd rot und grün … blinken. Die ineinenandergedrungenen nach oben strebenden Formen, die Schachtigkeit der einzelnen Elemente der Kästen wirken wahlweise wie die Orgelbauteile, die sie auch sind, hätten sich aber auch ganz hervorragend auf dem Set der Original Enterprise ausgemacht, als einer der vielen fehlgeleiteten Supercomputer, die Captain Kirk in den Wahnsinn quatscht um Welten zu retten. Desweiteren kann man sich die nicht allzulange Wartezeit damit vertreiben Tasteninstrumente zu zählen. Insgesamt sind es acht. Der Flügel. Der mit der Orgel verbundene dreier-Turm, mit dem zuunterst liegenden Melotron, auf dem drei wertgeschätzte mit Nils Frahm bekannte Damen ihr jeweiliges musikalisches Talent auf immer per Tastendruck abrufbar auf Tonspur gebannt haben; Gesang, Cello, und irgendein Horn soweit ich mich erinnere. Unter der monströsen Schalt- und Drehknopftafel zwei weitere. Und daneben stehend noch ein zierliches aus Holz, das wie die mit einem befreundeten Orgelbauer zusammengeschraubte Orgel selbst gezimmert ist.
Nils Frahm betritt die Bühne. Der von den Rängen behörachtete Applaus im Schauspielhaus hört sich wunderbar brausend an. Mit natürlicher Höflichkeit und freundschaftlicher Note wird das Publikum begrüßt. Das Repertoire der Zwischenansagen offenbart bereits die Pole seines künstlerischen Schaffens, eine bedachte Quirligkeit die voller frivoler Einfälle (Toilet Brushes als Klangstäbe für Klaviersaiten) steckt und mit sanftem Humor bestrahlt wird. Eine Landschaft in der es keine Grenzen gibt. Die Ansagen beinhalten Erklärungen zu den auf der Bühne herumstehenden Instrumenten, den einzelnen Stücken, Schmeicheleien für das Vorzugspublikum, dass die erste der beiden für diesen Abend angesetzten Shows ausverkauft hat – offen bleibt neugierig die Frage, welche Gegenschmeicheleien er dem zweiten Publikum avancieren wird, doch wer könnte etwas dagegen haben charmant angeschwindelt zu werden –, und umschließen auch ernstere Themen, wie die Legidademo die kurz vor dem Auftritt an seinem Fenster vorbeizog, das Auskalkulieren wieviele Noten er in seinem heutigen Set spielen wird, und dass das etwa so viele Noten sind wie Menschen, die seit dem arabischen Frühling im Mittelmeer ertranken, und er deswegen jede der gleich erklingenden Noten einem dieser Menschen widmen möchte.
Das erste Stück wird auf dem Flügel begonnen, doch schon sehr bald springt Nils Frahm weiter, von Instrument zu Instrument, wieder zurück, verdreht sich um kurz eine Einstellung an der Schaltwand vorzunehmen, oder biegt sich um an Taste Nr. 5 weiterzuspielen. Da mit dem Werk nicht sehr vertraut, verschwimmen die einzelnen Eindrücke ineinander. Die Orgeltöne, anfangs in langgezogenen Klängen angestimmt, oft aber auch in sehr schnellem Wechsel ein plänkeliges Hin- und Herspringen von Tönen, so dass ein karibischer, keinesfalls planflötender (!), Eindruck entsteht, der an unbestimmte 70er-Jahre-Filme erinnert. Das Einholen von Applaus für die drei Damen im Melotron. Wann immer Herrn Frahms linker Fuß unter einen bestimmten Mindestabstand zu einem gerade gespielten Instrument oder technischen Drehknöpfen gerät, fängt er in 128igsteln an zu wippen …
… es mag Menschen geben die behaupten, dass sei ein typisches Beinwippen junger nervöser Männer, doch ich denke vielmehr dass mit dieser akkuraten und sehr hohen Taktfrequenz der Grundteppich der Perfektion von Herrn Frahms virtuosen Klangstücken gelegt wird. Die Schnelligkeit mit der seine Finger über die Tasten schweben und sie scheinbar berührungslos zum Klingen bringen. Das gleichzeitige Spielen mit einer Hand auf den Tasten des kleinen Holzklaviers, und mit der anderen unten mutmaßlich die Saiten zupfend, so dass harfenschwingende Klänge entstehen. Wechsel zwischen stark elektrisch verspielten Passagen, und dann immer mal wieder wird sich kurz ans Klavier gesetzt, etwas jahrhundertealt klassisch Anmutiges gespielt, so schön, man möchte kurz die Augen schließen, was aufgrund einer ohnehin leichten Übernächtigung aber unweigerlich in Tiefschlaf münden würde. Dieser Bogen der die akustischen und die elektronischen Bestandteile umfasst und dadurch eine besondere Art Spannung beim Zuhören erzeugt. Um diese beinahe hypnotische Spannung tanzen die Beleuchtungseffekte, mal dezent, mal verspielt, das Geschehen auf der Bühne ausleuchtend; das somniale Bewusstsein erblickt wie sich aus den von unten nach oben und seitwärts strahlenden blaugräulichen Lichtkegeln ein Gebirge um Herrn Frahm aufbaut, hinter seinen Instrumenten bildet sich von den Lichtkegelkanten begrenzt ein von der Nebelmaschine gespeister Wolkensee, und vor der Schalttafel stehend, diverse Knöpfe drehend, links die drei Supercomputereinheiten aus Holz, wirkt es als würde er mit einem Raumschiff durch die Lichtlandschaft hindurchnavigieren.
Es ist nicht nur eine Freude den Stücken zuzuhören, sondern auch Nils Frahm dabei zuzusehen wie er sie mit viel Zartheit fürs Detail übereinandertürmt und aufbaut. Die Bewunderung flirrt zwischen der Schönheit der Kompositionen und der Virtuosität der Ausführung. Er wirkt dabei wie der kleine Puck in seinem Klangwald, in jedem Augenblick geschieht etwas mit geradezu organischer Natürlichkeit, als würde einfach das Leben geschehen, durch Nils Frahm hindurch fließen, der wie einem plötzlichen Einfall folgend das Instrument wechselt, oder nur kurz woanders etwas einstellt. Ohne die Geschichte des Herrn Puck zu kennen, ist es ein – somit ggf. vollkommen unzutreffendes – Bild, das sich aufdrängt, wie er freudig verspielt von einem Instrument zum anderen hüpft, um mit jedem einzelnen Ton alles um sich herum zu verzaubern. Vielleicht ist es aber auch nur die Theaterumgebung, und der ungewohnt tief nach unten gehende Blickwinkel, die diese Zauberwaldvorstellung hervorbringen.
Der Abend neigt sich der Zugabe zu. Nils Frahm flüstert dem Publikum »heimlich« – die zeitlichen Beschränkungen durch das Theater aufgrund der nachfolgenden Vorstellung betreffend – zu, wie er diese nicht einzuhalten gedenke, und verstärkt wiederholt den Eindruck wie ausgezeichnet ihm die Theaterkulisse steht. Seine Signierbereitschaft und Vorlieben – alles, auch Mobiltelefone doch am liebsten Körperteile und Alben – wird ausgerufen. Vorschläge für die Zugabe werden aus dem Publikum eingeholt, doch scheint schon vorher entschieden, welches Stück gespielt werden wird, und zu meinem Entzücken, der mir die Titel der Stücke nichts sagten, ist es das über alles am meisten bewunderte Said and Done. Im Wechsel zwischen unendlich weichklingend angeschlagenen Tasten, abruptem Endton, und mit voller Wucht in den Flügel geschlagenen Klängen verklingt der Abend. Ein letztes Aufbrausen von Applaus, ein letztes Mal hüpft Nils Frahm vor sein Publikum, mit kunstfertiger Pantomime eines Blicks auf die Uhr, einer Geste zum Theatermanagement, und dem Mimen eines Gehängten, wird freudig für den Applaus gedankt, und das Ausbleiben einer Zweitzugabe erklärt. Hinunter in das Foyer und durch die für den zweiten Teil des Abends angetretenen Besucher hinaus in das noch regennasse Leipzig – der Regen selbst ist verstummt – beglitzern zahllose Eindrücke den Nachhauseweg in die Nacht.