Kołczewo, Wolin | 27.12.08 bis 3.01.09
Das Glück zu finden ist keine leichte Angelegenheit. Zumal ohne Straßenatlas und in sehr kleinen mit Feldwegen verzweigten Ortschaften. Wir kennen den Namen der Straße an dem sich unser Ferienhaus befindet und wir kennen die Zahl. Und trotzdem kurven wir gerade zum vierten Mal alle Ecken und Einbuchtungen dieser Feldstraße die noch einer Teerung harrt ab, ohne dass einer entweder anhand der Hauszahl oder anhand des eingeprägten Bildes aus dem Internet unser Domizil erkennen würde.
Die ebenfalls bekannte Straße der Hausverwalterin, die man alternativ aufsuchen könnte, wird nicht eindeutig identifiziert, da das Straßenschild fehlt. Auf den vier Straßen des Ortes befindet sich nicht eine einzige Menschenseele die man befragen könnte. Die Hausverwalterin spricht nur polnisch. Zwecklos sie anzurufen und nach dem Weg zu fragen, wenn man selbst kein polnisch spricht. Also nochmal zurück an den Ausgangspunkt. Zurück zum Dorfkreisel. Da! Ein Schild. The Green House. Dort werden wir jemanden finden und befragen können.
Eine lange Einfahrt führt zum Green House, doch alle Ferienhäuser dort wirken verlassen. Betrübt trotten wir durch die Siedlung, bis Tine ein Lichtlein entdeckt. Dreist klingeln wir, und ein Pole wie aus dem Bilderbuch — groß, breitschultrig, gemütlich anzusehen — öffnet uns freundlich. Wir fragen auf deutsch, er bedauert, dass er nur Englisch spricht. Es ist kalt, er bittet uns freundlich hinein.
Da Pierre mitnichten ein von hier stammender Pole, sondern ein dialektfrei englisch sprechender Franzose ist, der sich mit seiner polnischen Frau hier niederlies, kann er uns wegbeschreibungstechnisch nicht weiterhelfen. Er ruft seine Frau und kramt für sie den zu erwartenden Charme des englisch sprechenden Franzosen hervor. »Cherie, there ar thrie sympathique yung peepole from Gérmanie and they need sum help.«
Cherie nimmt sich unseres Zettels mit der Beschreibung des Ferienhauses an, erkennt im Namen der Vermieterin eine Bekannte, ruft „kurz“ dort an (Pierre gibt durch ein heimliches Zwinkern in Verschwörermimik zu erkennen, dass er an die Kürze des Anrufs seiner Frau aus Erfahrung nicht glauben kann) und organisiert dass die Verwalterin uns Verlorene armwedelnd an der Hauptstraße erwarten wird. Mit der Ermahnung, dass wir uns bei Wildschweinbegegnungen im Wald ruhig verhalten sollen, werden wir zur Tür geleitet. Gerettet.
Bei der abendlichen Ankunft von Alex und Anne offenbart sich ein kleines frühmorgendliches telefonisches Mißverständnis, dass uns an diesem Samstag zwar mit Nudeln, Reis und Kartoffeln ausgerüstet sieht — aber ohne Frühstücksutensilien.
Drei Frauen machen sich im Dunklen nochmal auf den Weg den Ort zu erkunden. Die Straßen quillen im Vergleich zum Tage über mit nächtens durch den Ort streifenden Bewohnern, doch nur Wenige können uns polnischunkundigen weiterhelfen. Fahren mehrmals am Kreisel vorbei, folgen einem ikonischen Schild, das einen Einkaufswagen zeigt, einen endlos langen Weg in das finstere Nichts und landen schließlich im Nirgendwo an einer Tankstelle.
Kehren um. Werden schließlich von jemandem sehr detailliert zu einem Lebensmittelgeschäft instruiert, finden es aber auf dem gezeigten Weg nicht. Jedes der weihnachtlich bunt ausgeleuchteten Häuser und Hüttchen könnte das Lebensmittelgeschäft sein. Fahren den gezeigten Weg inklusive Dorfkreisel mehrmals ab, und dann nochmal von vorn.
Fragen neue Leute. Schlussfolgern aufgrund eines Gesprächs:
»Supermarket?«
»Wolin«
»kleiner?« — Handgesten die Verkleinerung anzeigen.
»Ahh. Sklep.«,
dass wir nicht nach einem Supermarkt sondern nach dem Sklep suchen. Das Dorf erscheint nachts viel größer als zuvor gedacht. Nicht vier Straßen sondern deren eher vierzig. Geben schließlich auf und suchen den Weg zurück. Da. Ein letztes vielversprechendes Aufblinken in einer entfernten Neuplattenbausiedlung. Ist es der Sklep oder wieder nur Weihnachtsbeleuchtung? Treffer.
Plündern den 10 qm großen Laden bis die Kasse 56 Złoti anzeigt. Wollen in Euro zahlen. Der Laden der bei unserem Betreten leer war hat sich inzwischen mit einer erwartungsfrohen Delegation der Einwohner des Ortes gefüllt die alle motivierend lächeln und nicken und fröhlich die deutschen Wörter der von uns eingesammelten Lebensmittel rezitieren. Wir rekonstruieren später, dass sie alle, angelockt durch unser wirres auf und ab und rundum Fahren und Fragen im Dorf, in den Sklep gepilgert sind, um dem Folgenden beizuwohnen.
Wir kennen den Umrechungskurs nicht. Die Kassiererin sagt 25. Nach Aushändigung der Bezahlung folgt ein kurzes Zwiegespräch zwischen Kassiererin und versammelten Zuschauern. Das Ergebnis ist eine Preiserhöhung um zwei Euro. Wir geben sie und verlassen mit lautem »Tschüß« und »Auf Wiedersehen« und breitem Grinsen verabschiedet den Laden. 56 durch 4 ist 14.
Wir sind froh und stolz zusammen mit der Sklepbesitzerin und unterstützt und weiter angefacht von den umstehenden Einheimischen an der Erfüllung eines zum Brauch gefestigten Klischees mitgewirkt zu haben. Die Vorstellung der anschließend von der Sklepbesitzerin ausgegebenen zahllosen Saalrunden und der spontan entstandenen Feier im Sklep wärmt unser Herz. Auf der Rückseite dieses Sklep entdecken wir einen Tag später einen weiteren, größeren Sklep, in dem wir sogar den Umrechnungskurs 4:1 auf dem Taschenrechner abnicken dürfen. Auf ihre Art ist natürlich auch das junge, freundliche Mädchen das in diesem Sklep hinter der Kasse steht sehr liebenswert, doch mit diesem ersten grandiosen Skleperleben kann dieser Besuch nicht mithalten und wirkt beinahe schal.
Die restlichen Tage vergehen in …
… weiten meist einsamen Sandstränden. Dem Meer und den Möwen. Jubilierenden Schlitterpartien auf vereisten Strandstellen. Durchstöbern und Erkunden der Requisiten des Ferienhauses. Der Kürung des väterlichen Don im Bademantel. Abendlichen fußbodenbeheizten Kaminfeuern.* …
… milchstraßenklaren Sternnächten; mitten in der Woche erschallt mitternachts eine Feuerwehrsirene. Knobeln und becherovkafarben leuchtenden Krupnik. Sklepbesuchen. Milch in Fettabstufungen von 1, 1,2, 1,5, 2, 2,5 und 3%. Erstaunlich anhänglichen Fritierfettdüften. …
… Einem nächtlichen Ausflug zum Swinemünder Leuchtturm, der von einem beschaulich bunt beleuchteten Industriegebiet umwoben ist …
… und auf dessen Aussichtsplattform der klirrendspitzteste Wind einen unsanft umfegt und die fototapparathaltenden Hände einfriert. Einem Huskypärchen, das einsam am Waldrand entlangstreift. Holprigen Fahrten durch die nationalpärklichen Wälder. Herrlichen Bodenwellen und der Entdeckung halb zugefrorener Binnenseen deren Eisdecke sacht aneinanderklirrt wie crushed Ice in einem Cocktail das von einem Strohhalm gerührt wird. …
… Dem Herabklimmen einer Steilküste um vom Wald an den schattigen Strand zu gelangen, auf dem in weiter Ferne die letzten Sonnenstrahlen anlanden. …
… Vor oder hinter Grundstückszäunen befindlichen bellenden Hunden. Und der stetigen Bewunderung dieses ganz besonderen neblig-dunstigen weißgolden glühenden Halblichts, dass sich durch die über das sanft hügelige Land ziehenden Holzkohleschwaden bricht …
Leider musste ich soeben erkennen, dass nicht dies meine letzten Erinnerungen an Kołczewo sein werden, da ich in den nächsten Tagen beständig durch die schmerzend verhärteten Muskeln in meinen Oberschenkeln ermahnt werden werde, dass sportliche Betätigungen wie das Herabschlittern an einer sandigen Steilküste auf dem Hosenboden, und das Einrammen der Beine in selbige um die Geschwindigkeit zu regulieren, nichts für kleine Stubenhobbits sind.
Dachte ich noch gestern auf dem Nachhauseweg, dass es sich um einen normalen, wenn auch äußerst schmerzhaften Muskelkater handelt, so wurde ich heute beim Aufstehen doch mißtrauisch. Beziehungsweise muss mir während des Schlafs das Wort Muskelzerrung aus meinem unendlichen Unterbewussten gesandt worden sein. Das Nachstöbern im Netz hat diese erschreckende Tatsache leider bestätigt.
Symptome:
– Der Muskel fühlt sich bei einer Muskelzerrung hart an und ist in seiner Beweglichkeit eingeschränkt.
– Punktartiger stechender Schmerz, besonders bei Druck auf die betreffende Stelle
Der Ausblick auf einen Muskelfaserriss der bei Nichtbeachtung der Symptome droht ist alles andere als verlockend. Ich will die Symptome brav beachten. Wirklich. Ich beachte sie.
* In den ersten Tagen müssen für dieses Feuer mühsam vom Hüter des Feuers Baumstämme mithilfe eines Schürhakens aufsplattatert werden, um sie in eine brennbare Größe zu bringen. Eine Axt kann bei der ersten Hauserkundung nicht aufgefunden werden — viele Türen sind uns verschlossen und verwehrt. Erst gegen Mitte der Woche gelingt dank eines in den Bückeburgschen Schmieden gefertigten Spezialschlüssels der Zugang zu Keller und Axt.
Tine · January 5, 2009 @ 09:58
Schöner hätte man es nicht beschreiben können
admini · January 5, 2009 @ 14:41
Naaa. Ich weiß nicht. Ich bin immer noch gespannt was für Schätze sich in Deinen geheimen Aufzeichnungen finden.
Habe gerade in einem Papiertaschentuch aus einer Packung die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in meiner Tasche befand den erinnerungsanregenden Duft nach Fritierfett wiedergefunden. Schwelg. Ziel für heute: Packung schnell aufbrauchen.
Tine · January 5, 2009 @ 15:05
ja es werden dann noch einige Dinge auftauchen, wenn ich an den Bildern sitze … freu mich schon sehr drauf! Wobei du mir den steilen Abhang schon vorweg genommen habe..na ja vielleicht konzentrier ich mich auf Glibber.
admini · January 5, 2009 @ 15:13
*lol* Jedem sein Spezialgebiet. Vielleicht bekomme ich ja auch einen Einführungsartikel in die hohe Kunst des Kaminfeuers vom Hüter des Selbigen.
Tine · January 5, 2009 @ 15:48
Welch verführerische Idee! Ich werde weiterleiten!
The Passage » Hippe Neujahrsblüten aus vergangenen Zeiten und Schockmomente durch unerwartete Veränderungen · January 5, 2009 @ 16:01
[...] wenigstens einmal zwischenzeitlich mit Wasser versorgen zu können. Als ich heute morgen mit meinen muskelverzerrten Beinen ins Bad hinkte wurde ich dort von 2 wunderschönen weißen Blüten überrascht, die sich [...]
whity · January 5, 2009 @ 20:11
Einmal mehr sehr schick. Bei den Fotos muss man gar nicht mehr mitfahren … ist ja schon fast wie live dabei
Und dann muss ich dir mitteilen (Ferndiagnose), dass du mit hoher Sicherheit KEINE Zerrung hast. Das hättest du sofort bei der entsprechenden Bewegung gemerkt. Ein starker Muskelkater kann scheißen weh tun. Und das über Tage! Ich könnte jetzt aus schmerzhafter Erfahrung berichten. Tu ich aber nicht, sondern bringe den bewährten Gedulds-Aufheiter-Spruch: “Mit Geduld und Spucke, fängt man eine Mucke.” Hurra!
admini · January 5, 2009 @ 20:16
Hach. Endlich bin ich beruhigt. Daaanke. Die Information und Entwarnung die ich im Netz nicht finden konnte wurde mir vom erfahrenen Sportzerrungskandidaten gegeben. Ich weiß es auch zu würdigen dass Du nicht ins Detail gehst.
Hatta ja schon fast Albträume von diesen hässlichen Zerrungsblutflecken. Allerdings hab ichs noch nie geschafft eine Mücke durch Spucken aus der Bahn zu werfen. Trotzdem wirkt der Spruch irgendwie beruhigend. Grübel.
Übrigens ist der Schmerz gerade am Schwinden. Ich vermisse ihn schon fast.
michbag · January 7, 2009 @ 15:09
Sehr schöner Urlaubs-Bericht - auch für solche, die dabei waren! Werde bestimmt was zum Thema Feuermachen schreiben.
admini · January 7, 2009 @ 22:25
Yesssss! Schriftliche Zusage. Ob das so klug war? Freue mich schon auf Deinen Bericht! Und werde im Zweifel wöchentlich mal nachfragen.