… nie krank zu sein | Tag 3: Samstag
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Wache mit Elan auf. Apotheke um gelatinefreie Gesundmacher zu erwerben und Supermarkt, in meiner Vorstellung ein sprudelnder Quell von Obst und Gemüse dessen Verzehr ich mir wunderbar heilsam ausmale, rufen. Der erste Husten des Tages holt mich auf den Boden zurück.
Nicht nur das Zwerchfell wie bei andauerndem Husten üblich, sondern auch der ganze Rücken ist eine Landkarte des Muskelschmerzes, der Verspannung, des Überdrußes. Je größer der Schmerz, desto höher die Formationen der Landkarte. Meine Ohren sind in einem den Alpen sehr ähnlichem Gebiet eingezeichnet. Entzündung steht in der für Gebirgszüge typischen Landkartenschrift quer darüber. Und der breite Strom Überdruß entspringt genau dort als kleiner gurgelnder Bach, bevor er sich durch die hügeligen Rückenausläufer furcht und wälzt.
Aber ich schaffe es mit Tee – schon wieder Tee, bächs, öde langweilige Plürre; will Latte Machiato! Will Gesund sein! - und einem Buttertoast mit zermatschter Banane zu frühstücken.
Das war alles bereits sehr anstrengend und ich krieche zurück ins Bett um Kräfte für ein Thymianbad zu sammeln. Da das Fieber sich verabschiedet hat kann ich endlich die wohltuenden Dämpfe auf mich wirken lassen und sie wirken Wunder. Leider nur für die Zeit der Badedauer.
Erneute Verschnaufpause in der Waagrechten. Der Supermarktausflug steht auf der Kippe. Viel zu schwach.
Irgendwann strömen die Energien zurück und ich breche in schützender Begleitung von Herrn Walte auf. Die Luft ist mild und ich spüre, dass es die richtige Entscheidung war. Ich fühle mich besser und besser, trotz des leichten Regens. Unser Weg führt an der Allee bei der Arena vorbei. Ich fühle mich richtig gut. Genauso wie jemand, der gleich einen starken Dämpfer bekommen wird. Ich habe die Krankheit in spitzenkurzer Zeit überstanden. Eigentlich war ich gar nicht richtig krank, denn das werde ich ja nie, … und dann: Schwächeanfall. Atmen beschwerlich. Knie weich.
Ich bitte Herrn Walte den Schritt etwas zu drosseln. Herr Walte wird etwas langsamer, kann aber seinen Schritt nicht bis auf mein Tempo verringern. Oft sieht man sehr alte Paare, bei denen er immer ein paar Schritte vor ihr geht. Und für einen Moment sah ich uns in der Zukunft. Für einen Moment war ich diese alte Frau schon jetzt. Schwach, tattrig, langsam.
Unsinn schallt ich mich. Du gehst nur etwas langsamer, normalerweise rennst Du durch die Welt wie ein Wirbelwind. Keineswegs bist Du so schwach und kränklich dass Du dich fühlen müsstest wie eine alte Frau. Ich gab mir recht und war beruhigt.
Ein paar Momente nach meinem plötzlichen Einbruch der Schwäche, in denen ich doch tapfer und recht flink voranschreite, nehme ich aus den Augenwinkeln hinter mir das Herrchen aus unserem Viertel wahr, dass zu dem alten bedauernswerten Köter gehört, und schwups zieht der alte Herr auch schon an mir vorbei. Ich bleibe wieder stehen und blicke zurück. Der langsamste Hund der Welt ist mir auf den Fersen. Unaufhaltsam schließt Boxer oder Dogge zu mir auf. Ich kann es nicht fassen. Als ich kurz innehalte springt er an mir vorbei. Ich bin am Boden zerstört.
Es wäre natürlich maßlose Übertreibung zu berichten er hätte mich überholt. Natürlich nicht. Ich blicke zu ihm und er zu mir. In seiner wässrigen Tränenflüssigkeit, die an den unteren Augenliedern links und rechts einen See bildet, schwimmen die von ihm verlebten Jahre wie ein Destillat der Jahrhunderte. Und wieder springt er 5 cm nach vorne. Herrchen und Herr Walte stehen wartend und zurückblickend ein paar Meter weiter vorn. Ein Blickwechsel des gegenseitigen Verstehens. Doch nach jedem Sprung muss er innehalten, während ich mich gleichmäßig vorwärts bewege, und so wieder Vorrang gewinne.
Leider wurde dieses Wettrennen nicht bis zum Ende ausgetragen, da 5 Meter weiter und 5 Minuten später wir nach rechts zur Bahn abbogen, Herrchen und Hund jedoch nach links zurück in den Wohnblock.
Beute aus Bahnhof. Hustensaft, schmeckt wie der meiner Kindheit, ist nur nicht so milchig sondern klar. Immer wenn ich die gerade anstehende Dosis exe, fühle ich mich als tränke ich Kräuterschnaps, kichere albern und sage Prost. Es ist ein Automatismus gegen den ich nicht ankann — so schmückt man sich den Krankenalltag in der Vorstellung; Aspirin Komplex; Obst. Ohrenschmerz läßt schon nach. Ernstes und sorgenvolles Studieren der diversen Gegenanzeigen und Nebenwirkungen auf den Packungsbeilagen. Einnahme der dazugehörigen Medikamente. Obst.
Gegen Abend. Aufschwung. Fühle mich in der Lage Buch zu lesen. Ohrenschmerzen verflogen. Sieg der Vitamine. Vertilge Kartoffeln (2 Stück) und Sauerkraut (Vitamin C) zum Abendessen.
Ernüchterung. Rückkehr der Kopfschmerzen. Verzagen. Kein Musikhören. Angst vor andauernder Schädigung. Husten hält ebenso schmerzvoll an.
Einschlafen. Zuviel Flüssigkeit durchläuft meinen Körper. Es gurgelt und blubbert und beschwört Bilder einer Alchimistenapparatur herauf, in der Tee, Aspirinwasser, Sprudelwasser, Obstwasser und Hustensaft in dünnen und gewundenen Röhrchen auf und absteigen und miteinander reagieren.
Nachts. Aufwachen. So heiß. Verwirrender Traum. Hastiges bis gehetztes Rodeln auf Buchstabenketten. Viele Abzweigungen. Gehe ins Bad um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Breche mit Übelkeitsgefühl und Magenkrämpfen zitternd zusammen. Lehne mich an Badewanne. Fliesen kalt. Atme schwerst.
5 Minuten später überstanden. Gaumen klebt. Noch ne Aspirin komplex? Apfel klingt gut.
Mixe sprudelndes Gebräu. Wo ich es so blubbern sehe werde ich mißtrauisch. Studiere Packunsgbeilage erneut. Trau mich nicht das Glas anzusetzen. Will nicht nochmal zitternd an der Badewanne lehnen. Wähle normale Aspirin. Verbringe eine halbe Stunde damit Apfel zu essen. Gaumen und Kehle fühlt sich besser an. Zurück ins Bett. Schlaf.